Der Gedächtnissekretär : Roman

Sadr, Hamid, 2005
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-06006-7
Verfasser Sadr, Hamid Wikipedia
Systematik JHZ - Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg
Schlagworte Wien, Weltkrieg <1939-1945>, Vergangenheitsbewältigung
Verlag Deuticke
Ort Wien
Jahr 2005
Umfang 237 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage 1.Auflage
Sprache deutsch
Verfasserangabe Hamid Sadr
Annotation Die Stadt als Palimpsest Hamid Sadrs Roman "Der Gedächtnissekretär" Josef Sohalt aus der Wiener Siebensterngasse will ein Buch herausbringen. Und Ardi soll ihm dabei helfen. Sohalt hat Schachteln voller Fotos, die er in den letzten Kriegstagen in Wien machte. Diese Aufnahmen will er mit den Häusern und Straßen von heute vergleichen und daraus einen komparatistischen Memorialband zusammenstellen. Doch der hochbetagte Sohalt wird von Gicht geplagt, ist somit immobil und auf einen Zu- und Mitarbeiter angewiesen. Auf die in der Universität annoncierte bezahlte Aufgabe eines "Gedächtnissekretärs", wie Sohalt dies etwas kokett später nennen wird, meldet sich der junge Perser Ardi, der in Wien ein Chemiestudium absolviert und, auf heimatliche Geldüberweisungen finanziell angewiesen, die allerdings mehr und mehr ausbleiben und durch väterliche Mahnschreiben ersetzt werden, von der Hand in den Mund lebt und diesen Job dringend braucht. Solcherart ist die Ausgangskonstellation in Hamid Sadrs neuem Roman Der Gedächtnissekretär. Adirs Aufgabe erscheint einfach: die Gebäude im heutigen Zustand mit den historischen Fotografien vergleichen und mit Hilfe der Aufzeichnungen des Herrn Sohalt, insgesamt fünf beschriebenen Oktavheften und mehreren losen Seiten, den Versuch unternehmen, präzise zu lokalisieren, wo und wann genau das jeweilige Foto einst aufgenommen worden war. Der Privatdokumentarist wird also zum ausdauernden Stadtgeher, zum Abmesser und Vergleicher der städtischen Topographie, zum Sucher von Multidimensionalität in Zeit und Raum. "Die Siebensterngasse war die Stadt, und die Luft dieser Stadt war voller Staub der Geschichte." Parallel dazu löst sich Schritt für Schritt Ardis soziales Netz auf. In den Wintermonaten, in denen er für Sohalt tätig ist, ist er mehr denn je auf die in Aussicht gestellte Bezahlung für die historische Rekonstruktionsarbeit angewiesen, wird dann doch wegen verabsäumter Mietzahlung delogiert und kommt, da sein Vermieter die Aufenthaltsgenehmigung zerriss und seinen Reisepass einbehielt, als Illegaler im TV-Zimmer eines Studentenwohnheimes unter. Er vernachlässigt sein Studium, weil er mehr und mehr seiner Aufgabe als zeithistorischer Geodät verfällt: "Wenn man jedes Bild von einer Kriegsruine, jede Aufnahme und jeden Schauplatz stundenlang betrachtet, um ja nichts zu übersehen, steigt man mit der Zeit in die Geschichte ein." Er liest die Stadt Wien nunmehr wie ein Palimpsest, stets auf der Suche nach der darunter verborgenen Schicht, der Epidermis von Gewalt, Not, Angst, Hysterie, Beklemmung, Brutalität, Okkupation und Opportunismus. "Zwischen Herrn Sohalt und mir existiert eine Stadt, die ich, vor Antritt meiner Arbeit für ihn, nicht gekannt hatte: Die Häuser sind (mit wenigen Ausnahmen) die gleichen geblieben, die Gassen und Plätze auch, aber (und dieses Aber ist ein merkwürdiges) ihre Farbe und ihr Klang sind anders geworden." Die Friedenshaut wird abgezogen - die kriegerische, versehrte, gewalttätige, profane, historisch konkrete Unterhaut der Zivilisation kommt zum Vorschein: "Aus jedem offenen Haustor strömt der unangenehme Geruch vom ausgeträumten Endsieg heraus. Die Hausflure sind nass, und überall stehen mit Wasser gefüllte Gefäße (Spülwannen, Kübel, große Ballonflaschen, Gurkengläser und sogar Küchengeschirr) bis zu den Kellertreppen an der Wand." Denn es existieren in Sohalts Unterlagen nicht nur Aufnahmen von Häusern, Plätzen und Kirchen vor, während und nach ihrer teilweisen oder vollständigen Zerstörung. Der 1920 geborene Sohalt, Sohn eines Greißlers, nahm im Frühjahr 1945 auch Menschen auf. Menschen in Wien, die nach Wasser oder Lebensmitteln anstehen, Hitlerjungen bei der Parade, jubelnde Massen bei der Umbenennung von Straßen entsprechend nationalsozialistischer Direktiven, Feuerwehrmänner beim Kampf gegen Flammen. Aber auch Tote, Versehrte, Verletzte und Erschießungskommandos, Menschen inmitten zerstörter Habe, desperate Ladeninhaber, deren Geschäfte kurz nach Kriegsende geplündert werden. Auch Kriegsverbrechen werden greifbar, wie der Augen-Detektiv Ardi nach und nach eruiert, an denen Sohalt als Soldat der Deutschen Wehrmacht an der Ostfront, so steht rekonstruktiv zu vermuten, teilnahm. "Während ich die Brotscheiben für das Mittagessen abschneide und die Fotos vom Tag in den Rucksack einpacke, gehen die ersten Einschläge in den Außenbezirken nieder." Nachdem Sohalt ins Spital eingeliefert worden ist, beginnt Adir, nunmehr nicht mehr beschränkt durch die Direktiven und normierenden Vorgaben seines Auftraggebers, die Szenarien intensiver denn jemals zuvor auszuspinnen und sich anzuverwandeln. Sukzessive schreitet sein psychisches Derangement, das Ineins von erlebter Fantasie und vergegenwärtigter Geschichte, so weit fort, dass er sich selber, einen Wehrmachtshelm auf dem Kopf gestülpt, nur noch in die am Rande Wiens gelegene Heil- und Pflegeanstalt Baumgartner Höhe am Steinhof einweisen kann. Von diesem Ort, aus dieser Perspektive wird dieses Buch erzählt. Doch der gebürtige Perser Hamid Sadr, der seit 1968 im Exil lebt und sein Heimatland seither nicht ein einziges Mal mehr betreten hat, der Wien seit 35 Jahren, seit seinem eigenen, dort absolvierten Chemiestudium kennt, scheut klugerweise davor zurück, sich in jenen Passagen, in denen die Unterscheidung verschleift und endet, zu einem tempestuösen, verbalakrobatisch schwindelmachenden Bewusstseinsstrudel hinreißen zu lassen. Er bewahrt auch beim Übergang von Normalität zum Obsessionellen - dem "Sich-in-der-Zeit-glauben", wie es einmal genannt wird - als Stilist kühlen Kopf und unbeirrt ruhige Hand. Denn er weiß natürlich gut, dass das Erzählen aus einer Krankenstation, einem Sanatorium, einem Irrenhaus eine lange literarische Tradition hat und zu surrealem, ver-rücktem Fabulieren verlocken vermag. Plastisch und suggestiv schildert Hamid Sadr die letzten Kriegswochen in Wien. In den 1970ern Mitarbeiter namhafter Filmregisseure, versteht er sich sehr gut darauf, Fotografien narrativ in bewegte Bilder zu verwandeln, ihnen Leben einzuhauchen, sie mit Atmosphäre aufzuladen und dramaturgisch stringent miteinander zu verknüpfen. Geschickt und eindringlich zeichnet er die Romanfiguren als ambivalente Charaktere. Sie kippen langsam und sacht - von Sympathie in eine durchaus auch häßliche Abgründigkeit, von Indolenz in Anteilnahme -, sie changieren, oszillieren und kippen wieder langsam und sacht zurück. Es ist dies eine dichte, präzise, nicht zuletzt poetische und stilsicher gehandhabte Beschreibungskunst, die Sadr hier demonstriert. Und es ist ein eindringliches Porträt der Stadt Wien, das er hier vorlegt, im Gegensatz zu neueren Romanen über diese Stadt nicht im Geringsten anekdotisch-pointillistisch, weder gezwungen humoristisch noch künstlich kauzig. *LuK* Alexander Kluy

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