Hotel Bolivia : Auf den Spuren der Erinnerung an eine Zuflucht vor dem Nationalsozialismus

Spitzer, Leo, 2003
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Medienart Buch
ISBN 978-3-85452-473-1
Verfasser Spitzer, Leo Wikipedia
Beteiligte Personen Sturm, Ursula C. [Übers.] Wikipedia
Systematik LJU - Literatur, Texte, Biographien
Verlag Picus-Verl.
Ort Wien
Jahr 2003
Umfang 320 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Leo Spitzer ; Ursula C. Sturm (Übers.)
Illustrationsang III.
Annotation "So also fühlt es sich wohl an, ein Flüchtling zu sein" Leo Spitzers Spurensuche "Hotel Bolivia" - so der Titel des Werks. Doch gleich am Anfang finden sich zwei Abbildungen aus Wien: Unter der einen steht "Mondfinsternis nach dem ›Anschluss‹" und die andere zeigt eine junge Frau auf einer Parkbank mit der Aufschrift "Nur für Arier". Leo Spitzer haben die beiden Fotos seit der Kindheit begleitet. Sie klebten, und zwar nebeneinander, auf der letzten Seite eines der Alben, die seine Eltern aus ihrer Heimat Österreich in das Zufluchtsland Bolivien mitgenommen hatten. Neun Phasen einer Mondfinsternis in Wien nach dem "Anschluß" - und Lizi Rosenfeldt auf einer Parkbank für Arier. Leo Spitzer erinnert sich, wie der Vater ihm als kleinem Jungen die technische Leistung der Mondaufnahme erläutert hat, er weiß, daß sie mit einer Rolleiflex gemacht wurde, die der Vater noch vor der Emigration verkaufen mußte, und er begriff schon als Kind, wie stolz der Vater auf das Gelingen dieses Fotos war. Doch er kommentiert: "Sicherlich interessierte ich mich dafür, doch soweit ich mich entsinne, hat weder dieses Foto noch die Aufnahme von Lizi Rosenfeldt damals eine besondere Faszination auf mich ausgeübt." Dabei provoziert gerade dieses Bild - eine junge Frau mit einer Blume am Sommerkleid, den linken Arm lässig über dem Schriftzug "Nur für Arier" ausgestreckt - jede Menge Fragen. Eine zusätzliche Information verbirgt sich auf der Rückseite, denn da steht: "Denkt oft und gerne an eure Lizi", datiert: "30.VIII. 38". Für das Kind Leo ist diese Frau einfach eine Freundin der Mutter, doch spätestens durch die Datierung wissen wir - genau wie der erwachsene Leo -, daß die hübsche Lizi (der die Emigration nach England gelang) auf einer für sie verbotenen Parkbank saß und daß sie sich damit gegen ein von den Nazis verhängtes Verbot auflehnte. Dieses Wissen ruft den Wunsch hervor, über den Bildrand, über den in der Aufnahme festgehaltenen Moment hinaus zu blicken, wenigstens zu erfahren, wie die Aufnahme möglich war, wer sie machte und was die Protagonisten dabei fühlten. Leo Spitzer erläutert seine Überzeugung, daß genau diese Bilder nicht zufällig auf der letzten Seite des Österreichalbums seiner Eltern kleben, sondern für sie auch mutige und ironische Kommentare zur drohenden Schreckensherrschaft bildeten. Die Alben haben noch eine Dimension: sie erhielten eine handfeste, illustrierte Verbindung zu der Welt aufrecht, in der die Eltern aufgewachsen und aus der sie vertrieben worden waren. Und wie die Alben, die bald nach der Ankunft in La Paz erworben wurden, manifestierte sich darin ihr Glaube an die Zukunft, da sie Familiendokumente auch für kommende Generationen schufen. Leo Spitzer, der uns so detailliert und spannend am Prozeß der Rekonstruktioneiner eigenen Familiengeschichte teilhaben läßt, kam im September 1939 in Bolivien zur Welt, nur wenige Monate, nachdem seine jüdisch-österreichischen Eltern dort angekommen waren. Als er dreieinhalb ist, trifft die Nachricht vom Tod der jungen Tante Ella ein. An einer Blutvergiftung sei die 23-jährige in La Paz gestorben, heißt es offiziell, doch: "Sie starb an gebrochenem Herzen" schnappt der kleine Junge einmal auf, und die Großmutter aus der väterlichen Linie vertraut ihm später an, daß sie Selbstmord begangen hat. Diese Tante spielte die zentrale Rolle für das Überleben der ganzen Familie. Ihr war nicht nur die Flucht in die Schweiz gelungen, sie hatte sogar eine Arbeitsstelle und eine neue Liebe gefunden, die so tief ging, daß sie an eine Heirat dachte. Ihrer Familie, die illegal eingewandert war, drohte jedoch die Ausweisung. Da machte Ellas Verlobter aus Wiener Zeiten ein Angebot: er konnte Visa für Bolivien besorgen, doch nur unter der Bedingung, daß Ella seinen Heiratsantrag annahm. Die Ehe ging bald in die Brüche, Ellas Versuche, neue Beziehungen einzugehen oder beruflich Fuß zu fassen, scheiterten. Ausgangspunkt für Leo Spitzers Suche nach der genauen Rolle Tante Ellas bildete die Bemerkung von Onkel Julius: "Sie (Ella, S.A.) war die Erste aus unserer Familie, die erfolgreich in die Schweiz gelangt war. Doch dann beschloss sie, nach Bolivien auszuwandern, und wir verdanken es nur ihr, dass wir überlebt haben." Spitzer wollte die Kluft ergründen zwischen der aktiven Person, die in diesem Satz gegenwärtig ist, und der jungen Frau, deren Foto sich ihm seit der Kindheit als Familienikone eingeprägt hatte, über deren Tod gleichwohl nie gesprochen werden durfte. Die Geschichte der jungen Ella ist einer der berührendsten Stränge von Leo Spitzers breit gefächerter Darstellung der Familienereignisse. Er nimmt nicht nur zahlreiche Dokumente Außenstehender hinzu, um die Erlebnisse und Erzählungen innerhalb der eigenen Familie zu ergänzen, vor allem arbeitet er mit der ganzen Bandbreite an Zeugnissen: Briefen, Fotos, Zeitungsartikeln, Büchern und Aufnahmen von seinen Gesprächen mit Zeitzeugen. Spannend ist dieser Prozeß, weil Spitzer dem Leser nicht nur das Ergebnis seiner Recherche präsentiert, sondern ihn an den Überlegungen teilhaben läßt, die seinen Forschungsprozeß auslösen und begleiten, oder schließlich zur Entschlüsselung einzelner Dokumente führen. Der Prozeß des Erinnerns, das macht Leo Spitzer klar, ist so fragil wie kompliziert, seine nostalgische Seite, die nur die positiven Elemente der Vergangenheit am Leben hält, eine ebenso kreative Kraft wie ihr Gegenstück, die kritische Erinnerung, die alles Bittere speichert. Sie beide sind nötig (und noch mehr das Bewußtsein darüber), um dem komplexen Charakter der Flüchtlingsidentität auch nur halbwegs gerecht zu werden. Ich könnte kein einziges Buch zum Thema Exil oder zur Erforschung desselben nennen, das mir diese Komplexität so sehr vor Augen geführt hat wie das vorliegende, und das mir durch sein eigenes Verfahren so klar machte, welche Rolle neben gesicherten Tatsachen das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable spielt. Das Bild, das wir von der Wirklichkeit schaffen, fußt auf Wahrscheinlichkeit, nicht auf Statistik. Doch das des Historikers nicht weniger als das der Emigranten. "Wir wären auch auf den Mond ausgewandert", erinnert sich ein Flüchtling, und eine andere Emigrantin meinte: "Bolivien war natürlich die näher liegende Option, doch den Mond sahen wir jede Nacht. Er schien uns realer, greifbarer." Im Kapitel "Unsichtbares Gepäck" macht Spitzer klar, daß das marginale Wissen über Bolivien meist auf voreingenommenen Interpretationen beruhte, keinesfalls auf neutralen Tatsachenberichten. Mit diesen kärglichen Informationen aus alten Geografiebüchern und Abenteuerromanen reisten die Emigranten an und sortierten unter diesem Gesichtspunkt ihre subjektiven Gefühle und individuellen Erfahrungen. "Ich bin Historiker und befasse mich als solcher mit dem Thema Immigration, gleichzeitig bin ich aber auch persönlich betroffen. Ich würde gerne behaupten, dass sich diese Rollen auseinander halten lassen, dass mein berufliches Ich von meiner subjektiven Sichtweise als Involvierter ausreichend Abstand halten kann, um eine unbeteiligte historische Untersuchung, Analyse, Betrachtung und Beurteilung zu erlauben. Doch das ist unmöglich." Es spricht für Leo Spitzers noble und zurückhaltende Art, die im ganzen Buch spürbar ist, daß er das Problem auf sich als unmittelbar Betroffenen bezieht. In Wirklichkeit schleppt jeder Rezipient unsichtbares Gepäck mit sich herum, und jede Erzählung trifft auf Bedeutungsschichten, die scheinbar objektive Tatsachen überlagern. Keiner ist frei davon, nur ist das nicht jedem bewußt. Obwo e26 hl Leo Spitzer immer wieder theoretische Diskussionen eröffnet, ähnelt die Lektüre seines Buchs einem Spaziergang durch weithin unbekanntes Gelände, begleitet von einem eloquenten kundigen Begleiter. Doch von außergewöhnlichen Exkursionen abgesehen widmet sich Leo Spitzer auch allgemeineren Fragen, die Bolivien als Fluchtziel betreffen, nicht zuletzt der Frage, was für spezifische Probleme dieses Land für mitteleuropäische nicht-bäuerliche Immigranten hatte, er berichtet auch von (meist gescheiterten) Versuchen, landwirtschaftliche Kolonien zu errichten, welche Anstrengungen es gab, die österreichische Identität aufrecht zu erhalten, wie sehr Bolivien als Durchgangsstation empfunden und gleichzeitig als lebensrettender Hafen in positiver Erinnerung gehalten wurde. Natürlich behandelt er auch dem Einfluß, den die NSDAP über die Botschaft und deren Beamte bei den schon länger im Lande lebenden Deutschen gewinnen konnte. Er weist jedoch darauf hin, daß es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, und "es ist eigentlich höchst ungerecht, dass Bolivien von vielen Europäern und Nordamerikanern vor allem als Unterschlupf für Nazikriegsverbrecher gesehen wird, während die Tatsache, dass Tausende jüdische wie nichtjüdische Flüchtlinge in diesem Land Asyl fanden, kaum gewürdigt wird beziehungsweise kaum jemandem bekannt ist." In der Erinnerung der Flüchtlinge, so macht Spitzer deutlich, spielt eine viele wichtigere Rolle, daß der Antisemitismus in Bolivien nie eine Chance hatte. Hochinteressant sind seine Erfahrungen beim ersten Besuch (1978) in Österreich, einem ihm fremden Land, möchte man meinen. Doch die "zweite Generation", die in Bolivien geboren wurde oder schon als Kind hinkam, hatte an Mitteleuropa "post-memories" und sozusagen indirekte Heimatgefühle. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß im Wohnzimmer der Familie Spitzer sowohl in La Paz als auch in New York stets eine handkolorierte Lithografie des Wiener Stephansdoms einen zentralen Platz eingenommen hatte

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